2.2. Wirtschaftliche Börsenreife

Börsenfähigkeit und Börsenreife sind grundlegende Voraussetzungen, um überhaupt einen Börsengang durchführen zu können. Während im Rahmen der rechtlichen Börsenfähigkeit eher formaljuristische Kriterien zu erfüllen sind, ist die wirtschaftliche Börsenreife unabdingbar, um bei Investoren Interesse zur Zeichnung der Aktie hervorzurufen. Daher kann die wirtschaftliche Börsenreife auch als Börsenattraktivität bezeichnet werden. Da das Investoreninteresse auch von temporären Präferenzen und branchenspezifischen Besonderheiten bestimmt wird, gibt es hier keine „allgemeingültige“ Check-Liste, sondern eine Darstellung möglicher Voraussetzungen und Auswirkungen der wirtschaftlichen Börsenreife.

Die Erfüllung der formellen Voraussetzungen der rechtlichen Börsenfähigkeit bedeutet nicht zwangsläufig, dass ein Unternehmen auch ausreichend „attraktiv“ ist, um durch ein IPO Investoren zu gewinnen. Vielmehr muss es hier mit seiner wirtschaftlichen Börsenreife überzeugen. Zentraler Punkt ist die kommunizierbare Equity Story des Unternehmens, d. h. die Argumente, die für ein Investment in die Aktie sprechen. Nur wenn ausreichend viele Investoren die Equity Story auch „sexy“ finden, wird die Emission erfolgreich sein, d.h., alle angebotenen Aktien werden zum vorgesehenen Preis platziert.

Wesentliche Eckpunkte der wirtschaftlichen Börsenreife sind:

  • Vollständiges und kompetentes Management-Team

Gerade der Crash des Neuen Marktes hat gezeigt, dass viele Probleme von Unternehmen auf deren Management zurückzuführen sind. Deswegen wird von Banken und Investoren ein besonderes Augenmerk auf die Kompetenz des Management-Teams gelegt. Insbesondere muss die Position des Chief Financial Officer (CFO/Finanzvorstand) kompetent und glaubwürdig vertreten sein. Generell nicht in Frage kommt ein Alleinvorstand; das damit verbundene Risiko wird von Investoren im Allgemeinen als zu hoch eingestuft.

  • Geschäftsmodell

Es wäre unmöglich, von jedem Unternehmen, das an die Börse gehen möchte, zu verlangen, ein eigenes, noch nie da gewesenes Geschäftsmodell zu verfolgen. Das ist allenfalls bei einigen Hightech-Unternehmen der Fall, die sich auf völlig neuartige Innovationen und Erfindungen stützen. Wichtig ist, dass das Unternehmen über eine wettbewerbsfähige Produkt- bzw. Dienstleistungspalette verfügt sowie nachhaltig und skalierbare Umsatzerlöse und Erträge erzielt und das der technische und marktseitige „Proof of Concept“ durch eine belegbare Historie schon nachgewiesen ist (kein Start-up!). Dies ist entsprechend darzustellen, das bloße Kopieren von Geschäftsmodellen (Me-too-Konzept) ohne eindeutige Wettbewerbsvorteile ist nicht attraktiv für Investoren.

  • Marktumfeld

Die Equity Story eines Unternehmens wird auch durch dessen Marktumfeld geprägt. Ist das Unternehmen in einem Bereich tätig, der jung und per se ein Wachstumsmarkt ist, sind die Expansionsperspektiven des Unternehmens der Öffentlichkeit relativ leicht zu vermitteln. Aber auch in langsam wachsenden, reifen, stagnierenden oder sogar rückläufigen Märkten können Unternehmen ein individuelles Wachstum, etwa durch Zukäufe im Rahmen einer aktiven Marktkonsolidierung, generieren. Der Markt, seine Struktur und die zukünftigen Perspektiven sollten durch unabhängige Studien dokumentierbar sein.

  • Positionierung im Wettbewerb

Wichtig für die Equity Story ist die relative Wettbewerbsposition des Börsenaspiranten im Vergleich zum Konkurrenzumfeld. Ist die Situation dadurch gekennzeichnet, dass sehr viele Wettbewerber mit vergleichbarem Produkt- oder Dienstleistungsportfolio um den Kunden kämpfen, ist es umso wichtiger, nachvollziehbar darzulegen, warum und wie eine Outperformance der Marktentwicklung in der Zukunft möglich sein wird. Erfüllt das Unternehmen wichtige kritische Erfolgsfaktoren besser als andere Gesellschaften, können
USPs (Unique Selling Proposition / Alleinstellungsmerkmale) herausgearbeitet werden, die die zukünftige Entwicklung absichern und Investoren Vertrauen vermitteln.

  • Zukunftsstrategie

Bei einem IPO investiert der Investor in die Zukunft des Unternehmens. Daher kommt der Darstellung einer schlüssigen Unternehmensstrategie eine besondere Bedeutung zu (z. B. bzgl. Internationalisierung, Ausbau der Produktpalette durch Forschung und Entwicklung, Zukauf von Unternehmen). Dabei sollten die unterschiedlichen strategischen Stoßrichtungen differenziert dargestellt und begründet werden und auch eine zeitliche Einordnung der einzelnen Maßnahmen erfolgen. Die Umsetzungsschritte und deren Auswirkungen müssen selbstverständlich in der Unternehmensplanung abgebildet werden.

  • Financials

Die für eine schlüssige Equity Story notwendige Zukunftsfantasie spiegelt sich letztendlich in der Umsatz- und Ergebnisplanung wider. Den Investor interessieren sowohl die Ausgangsbasis (Vergangenheitsdaten) als auch die Planzahlen des Unternehmens für die nächsten drei bis fünf Jahre. Prinzipiell sollte die Abbildung der Planzahlen immer „premoney“ erfolgen, d. h. die Unternehmensentwicklung zeigen, die ohne Kapitalzufluss aus dem Börsengang realistisch ist. Die Weiterentwicklung der Planung in eine Post-Money-Betrachtung obliegt i. d. R. den Analysten, die im Vorfeld des IPOs das Unternehmen durchleuchten und eine Researchstudie erstellen. Bezüglich des Umfangs sind Bilanz, Gewinn- und Verlustrechnung (GuV) und Kapitalflussrechnung /
Cashflow-Rechnung sowie die ausführliche Dokumentation der jeweils zugrunde liegenden Prämissen die Mindestanforderung.

Investorenanforderungen an Emittenten:

  • Überzeugendes Management-Team (Persönlichkeiten mit Track Record, möglichst keine „One-Man- Show“)
  • Transparentes und bewährtes Businessmodell mit klarer Unternehmensstrategie (attraktive Equity Story mit kommunizierbaren Alleinstellungsmerkmalen)
  • Stabile Erträge bzw. klarer „Path to Profitability“ (nachgewiesener Track Record, kein Konzept-IPO)
  • Wachstumsstory (Skalierbarkeit des Geschäftsmodells muss gegeben sein)
  • Klares Commitment von Management und Eigentümern zum Unternehmen (Halteverpflichtungen für Aktien nach dem Börsengang, vertretbare Umplatzierungsgrößen beim Börsengang)
  • Realistische Bewertungsvorstellungen

 


Autor: Dr. Rainer Mauer
PDF: Wirtschaftliche Börsenreife